Sollen und sein

  1. Joh. 1, 5 – 2,6 – Br. Markus

Ich bin mir nie ganz sicher gewesen, ob es eine Gunst oder eine Härte des Schicksals war. Das hat so eine Art „Lehrerinnentrauma“ in mir hinterlassen. Ja, es waren immer reichlich Lehrerinnen vorhanden, die meinten, mir sagen zu müssen, wie ich sein soll.
– Ich soll nicht zu frech sein.
– Ich soll nicht so faul sein.
– Ich soll artig danke sagen.
– Ich soll nicht den Unterricht stören.
– Ich soll die anderen nicht ärgern.
Ich  könnte es noch nachts im Schlaf aufsagen, was ich alles nicht soll. Da ist dann aber noch das Wildpferd in mir, dem es gewaltig auf die Hufe haut, wenn einer daherkommt, der mir sagen will, was ich tun oder lassen soll.

Im Johannesbrief geht es um mehr. Es geht nicht um moralische Anweisung oder verkrustete Vorschrift, auch nicht um Besserwisserei. Er schreibt, wie Christen sein sollen – wie unser Sollen zum Sein wird und unser Sein sein soll.

1.     Wenn die Gebote zu Bruch gegangen sind

Wenn wir behaupten, sündlos zu sein, betrügen wir uns selbst. Dann ist kein Fünkchen Wahrheit in uns.

Es geht um Sünde. Gemeint ist dabei nicht alles was Spaß macht und deshalb verboten ist oder der Kirschenklau beim Nachbar. Es reicht wesentlich tiefer. Sünde ist mehr als eine moralische Verfehlung. Sünde lässt sich nicht kategorisieren, wie in Flensburg. Sünde lässt sich nicht einordnen in ein Schema. Sünde ist weitaus tückischer. Sünde ist ein böses Phänomen, so böse, dass es oft nicht als Sünde erkannt wird. Zu einfach hat man es sich leider auch in der Kirche gemacht, indem man sich beim Thema „Sünde“ nur auf moralische Verfehlungen fokussiert hat. Sünde ist nicht die Erfindung der Kirche, die benutzt wird, um dem Menschen ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Die schlimmsten Sünden sind gerade die, die gesündigt werden im festen Glauben, das Richtige zu tun, die Sünden, die nicht als Sünde erkannt werden.

Zu allererst und vor allem ist Glaube: Erkennen von Sünde. Das ist nicht so einfach wie im Straßenverkehr. Ob man Verkehrssünder ist oder nicht, lässt sich einfach klären. Sünde als Sünde zu erkennen, ist viel schwerer, weil das Leben vielschichtiger und tiefer ist, als die deutsche Straßenverkehrsordnung. Sünde ist mehr als ein Verstoß gegen eine Vorschrift. Geht man dem Urtext nach, bedeutet Sünde „das Ziel verfehlen.“

Wer sündigt, verfehlt das Ziel. Es geht bei Sündigen deshalb auch nie um Bevormundung, es geht ums Ziel, Ziel erreichen oder nicht.  Wer sündigt, erreicht sein Ziel nicht – nicht mehr und nicht weniger. Er läuft ganz einfach ins Leere, dran vorbei sozusagen. Wer sündigt, erreicht seine Berufung nicht. Es ist unser aller Berufung, Mensch vor Gott zu sein, die wir erreichen oder nicht. Mensch vor Gott kann nur der Gerechte sein. Dem steht die Sünde im Weg, weil sie unsere Gerechtigkeit raubt.

Es geht dabei nicht um ein paar geklaute Äpfel –denn was wäre dann mit all den Menschen, die vor lauter Hunger einfach das genommen haben, was zu kriegen war. Die Geschichte der Menschheit und der Kirche ist gesäumt von zerbrochenen Geboten. Was ist, wenn man schießen muss, obwohl man nicht töten will? Was ist, wenn man lügen muss, obwohl man die Wahrheit liebt? Es gibt ungezählte Konflikte im Leben, die nicht mit platter Moral oder schnellen Antworten zu bedienen sind. Dann, wenn alles ganz anders ist, andere Umstände, andere Parameter gelten, muss jeder Gedanke, jede Tat neu geprüft und bedacht werden.

Und genau da ist auch die Gefahr, und nicht nur da, dass man sich selbst betrügt, trotz bestem Wissen und Gewissen falsche Entscheidungen trifft. Gerade die Kirchengeschichte ist voll davon. Zu viele Hexen wurden verbrannt im festen Glauben an den Herrn. Selbst heute noch begegnet man Menschen, die so gnadenlos erleuchtet sind, dass einem Angst werden kann, die genau wissen, was jeweils der andere zu tun hat.

Der Satz, daß wir Sünder sind, ist die erste wahre Aussage, die ein Mensch, der ins Licht Gottes tritt, macht.“ (Iwand)

Wer bemerkt, dass er das Ziel verfehlt hat, ist ganz nah an Gott. In der Erschütterung über mich beginnt sich Gottes Wahrheit zu verwirklichen, meine Zweideutigkeit zu beenden. Wem die Gebote zu Bruch gegangen sind, dem fällt auf, dass es mehr braucht als Schilder, Vorschriften und Hinweistafeln – und dass es oft nicht ausreicht, nur vor sich selber gradzustehen – eben weil ich manchmal für mich selbst nicht geradestehen kann. Die Begegnung mit Gott macht nicht klein, aber sie macht mich meiner Größe bewusst und sie lässt mich die Tatsache aushalten, dass ich nicht so toll bin, wie ich von mir dachte – und ich gar nicht so sein kann, wie ich sein soll.

Ich werde

2.     Ganz von allein gerecht

Gott will in uns sein Gegenüber sehen, Eindeutigkeit in Wort und Tat. Gott will in uns die Gerechten sehen, als die er uns geschaffen hat – und da ist soviel Zweideutigkeit, soviel Zweifel und soviel Angst, soviel Unvermögen, zu sein, wie ich sein soll. Ich kann nicht derjenige sein, den Gott in mir sieht. Ich kann nicht gerecht sein, schon allein, weil es viel zu viel Dinge gibt, die ich nicht sehen, prüfen und beurteilen kann. Trotzdem sieht Gott Gerechtigkeit in mir, spürbare, wirksame Gerechtigkeit in mir, dessen Auge so oft getrübt ist von eigenen Sichtweisen und dessen Ohr voll von Trommeln in eigener Sache ist. Trotzdem ist da die Gerechtigkeit, die hineinscheint in meine Ungerechtigkeit und die so viel heller ist als alles, was ich leisten kann.

Es ist nicht der Glaube, der sündlos macht, und es ist nicht der Glaube, der gerecht macht. Es ist die Gerechtigkeit Gottes, die sich an dem ereignet, der seine Sünde erkennen kann. Wer nicht merkt, dass er das Ziel verfehlt hat, kann nicht umkehren, um neu zu starten. Er fährt immer weiter im selben alten Trott. Die Gerechtigkeit Gottes unterbricht meine Selbstgerechtigkeit. Das macht den Unterschied. Ich sündige immer dann, wenn mir die Hoffnung verloren geht und ich es nicht mehr glauben kann, dass es auch anders geht, als ich selber ermessen kann. Die Gerechtigkeit Gottes folgt keinem fassbaren Prinzip. Sie vertraut sich demjenigen an, der darauf vertrauen kann.

Es ist nicht mein Training oder mein „Stärker machen“, es ist Geschenk Gottes, wenn ich gerecht sein kann inmitten des korrupten Dschungels. Es ist Geschenk Gottes, wenn ich die Wahrheit sagen kann, wo der Irrtum herrscht. Es ist Geschenk, wenn ich verzeihen kann. Es ist Geschenk, wenn ich es hören kann – auch das, was nie gesagt wurde. Es kommt von ganz allein, nicht durch mich, ich bin zu klein dazu. Es braucht größeres Herz und größeres Denken als ich es generieren kann. Es ist mein Fehler, dass ich nicht groß genug denken kann. Ich brauche einen, der diesen Job für mich erledigt.

Wirksam kann die Gerechtigkeit Gottes nur in den Menschen werden, die ihn wirken lassen, nicht in denen, die versuchen, wirksam zu sein. Christen werden immer Sünder sein, Zielverfehler, die einen brauchen, der Barmherzigkeit übt. Wir können nicht im Licht wandeln, wenn kein Licht da ist, das erhellt.

An Gottes Seite entstehen keine „Null-Fehler-Typen“, es entsteht aber

3.     Der utopische Mensch

Es steht nicht in der Bibel, sondern im Wörterbuch: Utopie ist die Vorstellung von vollkommener Gerechtigkeit. Gott leistet sich eine wirklichkeitsfremde Vorstellung von Menschen. Er träumt von vollendeten Gerechten. Gott träumt von Menschen, die in Einheit leben von Wort und Tat.

„Doch wer nach dem lebt, was Gott gesagt hat, an dem zeigt sich Gottes ganze Liebe. Daran ist zu erkennen, ob wir wirklich mit Christus verbunden sind.“

Gott belässt es nicht beim Träumen. Er erfüllt sich seinen Traum in Christus, der in uns Wirkung zeigt. Nicht ich in ihm, sondern er in mir verwandelt die Welt. Christus allein! Weder logisches Denken noch kluge Schlussfolgerung ebnen den Weg zu Gott. Christus allein!

Deshalb kann es auch keine mystische Erfahrung oder Ekstase ein, sondern Christus allein. Die Kraft, die Gebote zu halten, kann aus keiner anderen Quelle kommen. Selbst dann noch ereignet sie sich auf dem schwankenden Boden unserer Wankelmütigkeit. Aber auch wenn sie da und dort strauchelt, zeigt sie doch messbare Wirkung. Das ist das Entscheidende.

Gottes Utopie verwirklicht sich. Unser Leben  hat damit ein erstrebenswertes Ziel: vollendete Gerechtigkeit. Und wie jede Baustelle, die mal fertig werden soll, muss zuerst einmal angefangen werden. In Christus fängt Gott an, startet täglich neu. Heute in mir und durch mich startet die bessere Welt. Ich kann das – auch wenn ich mir’s nicht zutrau. Ich kann anders als nur ängstlich, kleinkariert oder zaghaft. Ich kann mindestens einen halben Zentimeter größer, als ich mir zutraue. Christus in mir – nicht ich, kann der oder diejenige sein, den Gott in mir sieht, den vollendeten Gerechten.

Das ist das eucharistische Prinzip. Gott schenkt voll ein. Er hat, was es ohne ihn nicht gibt: den vollen Ausgleich. Er sieht, was keiner sehen kann. Das beruhigt und beunruhigt ungemein. Es macht den Glauben nicht zur schweißtreibenden Arbeit an moralischen Normen, sondern zum Aufbruch des Vertrauens, hinein in ein offenes Gespräch mit einem, dem man alles sagen kann, auch das, was ich mir selbst verschwieg.

In Christus allein kann ich der sein, der ich sein soll, ohne mich nach irgend einer Seite zu verbiegen. Wir können so sein, wie wir sein sollen. Amen.

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