Der alles überragende Berg

Sonntag, den 06.08.17

-Br. Markus – Jesaja 2, 1-5

Der Calver Bühl ist eine markante Erhebung südlich von Dettingen/Erms. Auf dem Gipfel befindet sich eine Linde, die von weitem gut sichtbar ist (Wikipedia)

Vom Dettinger Kirchturm aus gesehen ist der Calver Bühl ein alles überragender Berg – wenn da nicht der Deckelesfelsen wäre … So hoch und so schön wie der Mount Everest sind sie beide nicht. Man muss nicht unbedingt nach Katmandu gehen, um atemberaubende Berge zu sehen. Ich geb’s ungern zu, aber mein Favorit in Sachen alles überragender Berg steht in der Schweiz. Das Matterhorn ist so schlank und elegant, steht so frei, das man es deutlich sehen kann, wie es alle anderen Berge überragt.

Es geht um’s größer sein bei Jesaja, der Vision, die er hat. Nicht im Sinne von Größenwahn, es geht um einen einzigen Berg, der größer ist als all die Berge von Schwierigkeiten, die der Mensch hat. Diesen Berg erahnt vor Tausenden von Jahren ein Mann in einer Vision: Jesaja, der Berg des Herrn.

1.                Schwindelerregende Aussicht

1 In einer Vision empfing Jesaja, der Sohn des Amos, diese Botschaft für Juda und Jerusalem:

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“ meinte Altkanzler Helmut Schmidt. Ein Leben ohne Visionen ist meiner Meinung nach der halbe Tod, eher vegetieren als leben. Ein Mensch, der nicht auch träumen kann, ist doch arm dran. Leben ohne Lebenstraum ist frustrierend, ohne Aussicht. Wer nie auf einem Gipfel stand, weiß nicht, was er verpasst hat. Jeder drittklassige Motivationstrainer weiß, dass der Mensch etwas braucht, das in antreibt. Es geht nicht um Luftschlösser, auch dann nicht, wenn jemand ein Konzept erstellt für sein Leben, einen Plan. Dazu braucht er eine Vision, eine Idee, wie es sein wird oder klappen kann. Jeder Wetterprophet entwickelt eine Vision für den kommenden Tag. Wenn sie auch einem Rechenmodell entspringt, ist es eine Vision, eine Art Vorstellung von Zukunft. Wenn ich nicht glauben kann, dass der Zug ankommt, dort, wo ich hinwill, steig ich erst gar nicht ein. Jeder Gärtner braucht eine Vision, pflanzt er Radieschen oder Salat. Ohne Vision pflanzt er erst gar nicht an. Wer nur Angst vor den Schnecken hat, lässt es von Anfang an sein. Das wäre der visionslose, der, der nicht glauben kann, dass er auch trotz Schnecken wachsen kann – der Salat.

Ich brauche den Glauben, dass es gelingen kann, sonst kann ich’s gleich aufgeben – mit oder ohne Glaube. Die echte, die gute Vision verleiht unserer Fantasie Flügel, hebt den Verstand empor, rührt an, macht besonnen und riskant, zockt hoch, holt runter, fährt ab oder spornt an. Ohne Vision lebt man nicht mal schwarz-weiß, man lebt ohne Farbe, ohne Ton, einfach im falschen, zementgrauen Brei. Vision führt den Verstand in die Königsdisziplin des Menschseins, nicht nur an Essen und Trinken und den Augenblick, sondern darüber hinaus an morgen zu denken.

Bert Brecht sagt: Wenn alle Irrtümer verbraucht sind, sitzt als letzter Gesellschafter uns das Nichts gegenüber.“ Der Nachteil dieser Art des modernen Denkens ist, dass es depressiv macht. Je visionsloser ich lebe, umso höher werden die Berge der Schwierigkeiten. Ich versenke mich selbst ins tiefe, tiefe Tal. Für jeden, der sich selber fertig machen will, kann man also Brecht empfehlen. Da is nix, da war nix und da wird nichts sein.

Oberhalb des Calver Bühl gibt es ja noch die Höllenlöcher. Da hat man eine vergleichbare Aussicht. Obwohl die ja höher liegen als der Calver Bühl, sieht man weniger, weil man beschattet ist von den hohen Felsen und den Bäumen rings um die Schlucht herum.

Bei Jesaja ist das anders. Schwindelerregende Aussicht schafft

2.                Weitreichende Einsicht

Denn vom Berg Zion aus wird der Herr seine Weisungen geben,… Gott selbst schlichtet den Streit zwischen den Völkern, und unter den Nationen spricht er Recht. Dann schmieden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen um und ihre Speere zu Winzermessern.

Diese Botschaft ist so unverschämt, dass sie mindestens in einer Disziplin überragt: in ihrer Unverschämtheit. Ja, es ist geschmacklos, in einer Welt der Bombendrohungen, Selbstmordanschläge und Massaker von der total anderen Friedenswelt Gottes auch nur zu träumen. Es ist tatsächlich weltfremd, weil unsere Wirklichkeit so anders ist. Das aber heißt nicht, dass es auch geht.

Unsere Welt 2017 besteht zwar aus Hass, aber auch aus Liebe, und das war auch noch nie anders, auch wenn’s nicht in der Zeitung steht. Es ist keine Sünde, im Krieg vom Frieden zu träumen, erst recht nicht, wenn man weiß, dass Frieden die bessere Lösung ist. Es muss keine Sünde sein, sich nach Gerechtigkeit zu sehnen, wenn man betrogen wurde. Das hat nichts mit kranken Gefühlen zu tun, viel mehr mit wachem Bewusstsein. Lustigerweise war es die Sowjetunion, die Jesajas Prophezeiung als Statue bei den Vereinten Nationen hat aufstellen lassen: ein Schmied, der Schwerter zu Pflugscharen macht. Komischerweise war es dann in der DDR verboten, dieses Symbol der Friedensbewegung zu tragen. Die Logik, die da dahinter steht, erschließt sich mir bis heute nicht. Die Vision des Jesaja ist aber nicht nur Traum von einer entmilitarisierten Zone oder waffenfreien Welt. Darin unterscheidet sich Jesaja von großen politischen Träumern aller Zeit. Der Mensch kann sie nämlich wirklich nicht, die friedvolle Welt, die Welt, in der keiner den anderen ausnützt oder über den Tisch zieht. Die Menschheit kann sie nicht, wir können sie nicht, die versöhnte, gemeinsam schaffende Welt, in der jeder den anderen respektvoll ansieht. Es braucht viel mehr als den Versöhnungstraum, um versöhnt zu leben. Der Krieg fängt nicht erst da an, wo einer in den Panzer steigt oder die Patrone ins Gewehr schiebt. Es fängt im kleinen an, in mir, im stillen, im Frust mit den anderen, im Gefühl, verletzt, benachteiligt oder übergangen zu sein. Da fängt das Bomben bauen an, in meinem Kopf, und nicht nur dort. Im ganz normalen Kampf ums Dasein, das ich nur lebe, wenn ich mich behaupten kann. Fressen oder gefressen werden – da ist kein Platz für Großzügigkeit, auch nicht für die Großzügigkeit Gottes, so scheint es. Man muss ja sehen, wo man bleibt. Verzicht zugunsten anderer gelingt nicht so ohne weiteres. Ohne Verzicht ist aber Krieg. Nur wenn es einem gelingt, zu verzichten um was zwei streiten, kann wieder Friede sein. Selbst wenn einer verzichtet, ist das nicht immer Friede, was dann bleibt, wenn dabei noch die Gewissheit ist, dass eigentlich der andere hätte verzichten wollen sollen. Frieden schaffen ohne Waffen gelingt nicht aus politischer Überzeugung – bestenfalls teilweise. Selbst aus religiöser Überzeugung ist es schwierig, wenn nicht noch schwieriger –  da, wo der andere an den ganz anderen, den falschen Gott glaubt. So werden Kriege gekriegt – auch völlig atombombenfrei, mit messerscharfen Zungen allein, giftigen Vermutungen und dynamitreichen Behauptungen, heute, unter lauter zivilisierten, kultivierten, friedfertigen Geistern. Es gibt in unserer Welt völlig legale Verfahren, um andere über den Tisch zu ziehen, zu übervorteilen und zu brandmarken, zu beschießen, ohne eine einzige Patrone zu vergeuden. Auch das ist Krieg, die stille Schlacht der Gedanken, in denen ich den lästigen anderen fertigmache, so weit, weit weg von mir denke. Gerade, wo sich unser Denken so knietief in eigene Befangenheiten verwickelt, braucht es den überragenden Berg, den Gipfel, auf dem man sieht, dass es noch mehr gibt als nur mich und meine finsteren Täler.

Diese Einsicht macht mich

3.                Im felsigen Gelände aktiv

Gott hat einen Traum: Schwerter zu Pflugscharen, Kanonen zu Kochtöpfen. Dieser Traum ist so verrückt, dass er sämtliche Verrücktheiten dieser Welt überragt. Es gibt keine Konkurrenz mehr zwischen Dir und mir, es gibt nur noch uns – weltweit. Wir – und das heißt wirklich: wir alle – sind in Gott aufgehoben, auch die blöde Kuh auf der anderen Straßenseite und der schräge Vogel hinter dem Gartenzaun. Es ist unser aller Sinn und Auftrag, Geliebter und Geliebte zu sein, aus diesen Bergen von Sympathie die Kraft zu finden, auf Waffen zu verzichten, wie immer das aussehen mag. Es funktioniert nicht wie ein rosa Traum.

Leider kann man die Welt weder mit warmen Worten noch gutem Beispiel retten, auch nicht mit roher Gewalt, obwohl es Länder gibt, in denen gerade die Armee den Frieden sichert. Jesaja prophezeit keinen naiven oder blindwütigen Pazifismus. Er sieht die langfristige Ausrichtung der Welt auf Gott hin, endgültig. Das schafft keine fantastische Lebensführung, aber fantastische Aussicht. Schwerter zu Pflugscharen zu machen ist eine anspruchsvolle Lebensaufgabe, die jeden von uns herausfordert, allein deshalb, weil echter Friede meine Möglichkeiten übersteigt. Es ist unser Auftrag, das Schicksal zu schmieden. Das passiert jeden Tag und überragt meine ganz persönlichen Schmiedekünste. Das Eisen ist heiß, so heiß, dass ich es manchmal nicht anfassen mag, weil es mir die Finger verbrennt, trotz dem, dass ich Handschuhe trage. Wenn’s auch nicht gleich ein formschönes Winzermesser wird, wenigstens eine halb krumme Sense sollte dabei schon rauskommen.

Vor unseren Augen steht ein großer, ein sehr eleganter, weithin sichtbarer Berg, schwerer noch als der dickste Achttausender. Es ist der Berg der Gerechtigkeit namens Golgatha, der Berg, der das aufwiegt, was uns an Gewicht fehlt im Ringen um dieses große Ziel. Dieser überragende Berg hilft uns, heute, zu sein, wie wir sein werden, wenn die Vision Wirklichkeit wird. Ich bin zwar nicht Brecht, wollte aber schon immer mal so einen Brecht-ähnlichen Satz versuchen:

Wenn alle Irrtümer verbraucht sind, ist da alles, was wir gewagt haben, zu glauben: ein überragender Berg.

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