Markus 12, 28-31
28 Ein Schriftgelehrter hatte zugehört und war von der Antwort beeindruckt, die Jesus den Sadduzäern gegeben hatte. Deshalb fragte er ihn: „Welches von allen Geboten Gottes ist das wichtigste?“
29 Jesus antwortete: „Dies ist das wichtigste Gebot: ‚Hört, ihr Israeliten! Der Herr ist unser Gott, der Herr allein.
30 Ihn sollt ihr von ganzem Herzen lieben, mit ganzer Hingabe, mit eurem ganzen Verstand und mit all eurer Kraft.‘
31 Ebenso wichtig ist das andere Gebot: ‚Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst!‘ Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.“
Herzform in rot
Der Autofahrer in uns weiß: Nichts ist so unromantisch wie ein deutsches Verkehrsschild.
Da steht so ein dröges „Vorfahrt achten“ auf zementgrauem Asphalt, um klar zu machen, daß man erst gucken muß, bevor man fahren darf.
Total spießig, das Ganze.
Noch schlimmer sind „Zone 30-Schilder“ – also rein emotional, meine ich. Obwohl sie rot umrandet sind – der totale Abtörner.
Stellen wir uns also eine Kreuzung vor, an der kein „Rechts-vor-links“, kein „Vofahrt haben“ – oder „Achten“ kein Stop- oder Warndreieck steht, sondern – – ein rot – umrandetes – Herz.
Da würde einem doch ganz anders warm werden hinter dem Lenkrad …
Der Staat ist noch nicht so weit. Die Kirche seit Tausenden Jahren schon.
Wo Gott ist, ist das rot umrandete Herz das wichtigeste Schild, das es gibt, Verbot- wie Gebotsschild gleichermaßen, goldene Regel des Straßenverkehrs.
Herzform in der Farbe rot gilt als weitverbreitestes Symbol für Liebe.
Im heutigen Predigttext geht es um die wichtigeste verbindliche Anweisung, wie Christen leben sollen: mit diesem Schild
1. Ganz oder gar nicht
2. Stärker als stark
3. Gefesselt frei gemacht
1. Ganz oder gar nicht
Das wichtigste Gebot für die Christenheit ist ein Ge-bot, kein Ver-bot.
Betritt man heutzutage eine Kathedrale, stehen tausend Ver-bote auf dem Besucherschild.
Es fehlt mindestens das rot umrandete Herz.
Eis essen, reden, telefonieren oder kurze Hosen sind verboten.
Schon klar, aber leider nimmt man somit die Christenheit eher ver-botsgeprägt als ge-botsgeprägt wahr. Das ist schade wie schlimm.
Das wichtigste Gebot ist eben ein Ge-bot – und nicht nur das, es ist sogar ein Doppelpack. Nicht eins, sondern zwei Gebote stehen an der Spitze – zwei, die sich gegenseitig nicht nur ergänzen, sondern gegenseitig kontrollieren im positiven Sinn, sonst könnte es passieren, daß sich ein guter Christ oder eine Christin in die Kirche setzt, singt und betet und meint, das wäre dann alles.
Oder umgekehrt: daß vor lauter Charitas und frommer Aktion keine Zeit mehr bleibt für die spannende Gottesbegegnung in der Stille.
„Und auch“ heißt Gottes Gebot, nicht „entweder oder“
Das ist enorm wichtig, tendiert der Mensch von sich aus doch eher zur Vereinseitigung.
Gott ist umfassend, ganz.
Der ganzheitliche Glaube ist mindestens zweiseitig. Liebe zu Gott drückt sich also in der Liebe zu Gott, zu mir selbst und zum Mitmenschen aus.
Vorfahrt für die Liebe bedeutet Vorfahrt für meine Zeit mit Gott, zugleich Vorfahrt für meine Zeit im Dienst am Nächsten.
Wer eins von beidem vernachlässigt, rutscht am Ziel vorbei.
Der Theologe Voigt sagt: „Man kann Gott nicht lieben, indem man sich vor dem Mitmenschen, seinen Ansprüchen, Bedürfnissen und Nöten in Sicherheit bringt. Anbetung, Kontemplation, Meditation können eine solche unerlaubte Zuflucht sein. Genauso ist eine isolierte Nächstenliebe, ein scheinbar christlicher, in Wirklichkeit jedoch gottvergessener Aktivismus ebenso wenig im Sinne Jesu.“
Weder nur das eine noch nur das andere ist im Sinne des rot umrandeten Herzens. Beides zusammen macht stark.
Gerade darin liegt unsere spannende Lebensaufgabe, allem, was uns umgibt, das richtige Gewicht zu geben, geprägt durch ein rot umrandetes Herz.
Es gelingt dann nicht, in der Kirche zu sitzen, wenn ich weiß, daß draußen mein Mitbruder noch im Garten schwitzen, in der Küche rödeln muß oder mit dem Abfall Entsorgen noch nicht fertig ist – genau so wenig, wie eben mal noch schnell fertig zu machen, wenn ich weiß, daß jetzt Gebetszeit ist.
Egal wo einer sich rar macht, hinterlässt er dem anderen die doppelte Last, und das ist ganz sicher nicht das Doppelgebot der Liebe.
Unser Ziel ist ein rot umrandetes Herz, und das ist nicht dazu gemacht, uns irgendwie in Sicherheit zu bringen, sondern wach zu machen, aufmerksam wie an einer Straßenkreuzung.
Das ungeteilte rote Herz weist darauf hin, daß da ein Gott ist, der uns liebt und daß da auch noch andere sind, die unsere Liebe brauchen.
2. Stärker als stark
„Der Herr ist unser Gott, der Herr allein. Ihn sollst du von ganzem Herzen lieben, mit ganzer HIngabe, mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft.“
Es geht um die Vorfahrt, Vorfahrt für die Liebe. Nicht die Verbote „Du sollst nicht lügen, stehlen oder rauchen“ sondern um das Gegenteil davon.
Vorfahrt hat das rote Herz. Es klingt total romantisch und ist total romantisch.
Nicht die Kriege des Glaubens und unsere kleinen Kriege, sondern das große Herz Gottes sind angesagt.
Es geht um unsere innere Verbundenheit zu Gott, sicher auch um ein starkes Gefühl innigster Verbundenheit, aber das nicht nur allein.
„Ganze Hingabe, ganzer Verstand, ganze Kraft“ klingt nicht bescheiden.
Da ist nicht nur das eine oder andere, sondern wieder alles zusammen angesprochen, alles, was einen Menschen ausmacht, hundertprozentig, ganz, sein ganzes Wesen.
Deshalb kann der Glaube nicht Kopf- oder Bauchgefühl sein, weil er beides zugleich sein muß, mehr noch, „mit allem“ sozusagen, nicht dem einen der anderen.
Ein Gefühl könnte nie stark genug sein, alle Zweifel zu besiegen, und mein Verstand allein würde so etwas verrücktes sowieso nie zu begreifen, und die Kniee allein wären zu weich, um noch gerade zu stehen, wenn gerade Stehen angesagt ist.
Liebe zu Gott ist stärker als ich. Nicht ich, er liebt mich – das ist die entscheidende Entdeckung.
Gott kann und will uns nicht befehlen, ihn zu lieben, er braucht keine Zwangsheirat auf hinterorientalische Art.
Gott will als Macher der Sympathie entdeckt sein, über den Verstand hinaus, aber mit wachem Verstand ergriffen.
Gott ist sich ganz sicher. Er meint und will uns ganz und gar. Er macht keine Rückzieher wie ein erschrockener Bräutigam fünf Minuten vor der Heirat.
Gott will uns ganz. Er gibt uns Gelegenheit, ganz mit dabei zu sein, mit allem, was uns ausmacht.
Wir sind gemeint. Es kommt einzig darauf an, wie viel wir zulassen von seiner Sympathie im Leben, wie nah wir ihn ranlassen an uns und all die Ängste, in denen jeder von uns gefangen ist.
Der Mensch allein kann Gott gar nicht lieben. Zu unsichtbar, zu rätselhaft, zu weit weg ist er.
Ich kann nur eine kleine Entdeckung machen, die Entdeckung, daß er mich liebt, daß er es ist, der mich anmacht in all den ausgeknipsten Welten um mich und in mir drin.
Christus ist diese große Leidenschaft Gottes, die es mir allein möglich macht, so außerirdisch zu lieben, wie Gott sich das denkt.
Das ist ein Lebensweg und ein Auftrag, eine Herausforderung der romantischen Art, hinein in meine viel zu kleine, viel zu kalte, viel zu naive, viel zu erschrockene Welt.
Gott liebt mich auf seine ganz außerirdische Art, inmitten meiner Fehlerhaftigkeit, Kleinkariertheit und in allem tonnenschweren Selbstmitleid.
Er liebt mich, bevor ich selber lieben kann. Gott liebt mich trotz meiner schweren Kindheit, den falschen Freunden, spießigen Nachbarn und dem blöden Chef.
Er liebt ohne Ende und ungefragt.
Es ist lediglich die Frage, ob ich es glauben kann, die mich fähig macht, zu lieben wie er, stärker als stark.
In seiner Liebe sind wir
3. Gefesselt frei gemacht
„Liebe deinen Mitmenschen so, wie du dich selber liebst.“
Die Herzform in rot ist kein tausendseitiges Regelwerk zur Begrenzung von Freiheiten.
Im alten Judentum gab es wohl 612 Vorschriften für gutes Verhalten, spaßbremsenmäßig.
Gottes Liebe regelt nicht ab, sie eröffnet Gestaltungsräume.
Das befreit und fesselt zugleich.
Ich in von Gott geliebt – das eröffnet mir ungeahnte Möglichkeiten und bindet mich extrem ein. Es ist die Herausforderung meines Lebens.
Nicht ich entscheide, was mir gut tut oder nicht, sondern die Liebe zu Gott.
An allen Kreuzungen des Lebens steht dann kein enges, starres Konzept, sondern freier Gestaltungsraum.
Die Herzform in rot ist das Hinweisschild, das uns nur dazu auffordert, inne zu halten und gründlich zu prüfen, was genau Vorfahrt hat und was nicht.
Die anderen sind nicht meine Schachfiguren, mit denen ich spielen sollte oder kann, auf die man religiöse Vorschriften anwendet oder auch nicht. Dort wo ich den Nächsten lieben kann, wie Gott ihn liebt, gibt es keine leichten Wege mehr.
Der Theologe Voigt sagt: „Die Liebe macht es sich nicht nur im Gehen des Weges schwerer, sie muß es sich auch im Finden des Weges schwerer machen.“
Die Herzform in rot ist ein klares Hinweisschild, weg vom reinen Selbsterhaltungstrieb hin zur Verantwortung für andere, mit denen wir auf dem Weg sind, eingebunden in die Verantwortung vor Gott.
Wer nur noch sich selber sieht, sollte prüfen, ob er noch die richtige Brille aufhat.
Augustin sagt: „Liebe – und dann tue, was du willst.“
Es gibt keinen größeren Handlungsspielraum dieser Art. Es gibt keine stärkere Fessel.
Das neue Gesetz der Zuneigung in Christus bringt frischen Wind in unser Leben. Wenn es eine Norm für Entscheidungen gibt, dann nur die mit Herz.
Es geht nicht um Gesetzlosigkeit, es geht um die Freiheit, zu lieben.
Das drückt Augustin folgendermaßen aus:
„Ob du schweigst, schweige in Liebe.
Ob du rufst, rufe in Liebe.
Ob du schiltst, schilt in Liebe.
Ob du schonst, schone in Liebe.
In dir sei die Wurzel der Liebe.
Aus dieser Wurzel kann nur Gutes kommen.“
Das ist unser Auftrag, das wichtigste Gebot der Christen. Amen.